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Anglerin im Grab des weißen Mannes

Vielen ist die unerschrockene Engländerin Mary Kingsley als Völkerkundlerin unter Kannibalen bekannt. Dass sie ursprünglich nach Afrika zog, um dort nach unbekannten Fischarten zu angeln, ist fast in Vergessenheit geraten.

„Nehmen Sie bevorzugt bei männlichen Exemplaren Maß und messen sie vom Kopf bis zum Schwanzende.“ So lauteten die Vorgaben, die man der damals 31-jährigen Mary Kingsley (1862-1900) im August 1893 mit auf ihre erste Westafrikareise gab. Bevor sich die angehende Entdeckerin aber daran machen konnte, den Zollstock an die maskulinen Süßwasserfische der dortigen Flüsse und Seen zu legen, hieß es erst einmal ein eigenwilliges Gastgeschenk aus den Händen des Stammeshäuptlings der Fang zu verkraften, denn dieser überreichte ihr zur Begrüßung ein Stoffsäckchen mit frischem Menschenfleisch. So merkwürdig wie diese Gabe der gebürtigen Londonerin erschien, muss auch sie auf Dschungelbewohner im Einzugsgebiet der Kongomündung gewirkt haben, denn die couragierte Dame war trotz ihres außergewöhnlichen Expeditionsziels alles andere als eine Vorreiterin der Frauenemanzipation, sondern reiste im Auftrage des naturhistorischen Museums ihrer Heimatstadt in fischkundlicher Mission, wobei ihr stilistisches Motto lautete: „Du hast kein Recht in Kleidern durch Afrika zu laufen, für die du dich zuhause schämen würdest.“ Und so zog sie in viktorianischer Mode hochgeschlossen (inklusive Unterrock, Hütchen und Sonnenschirm) durch die Urwälder Gabuns und des Kongogebiets, wo sie auf Flusspferde, Gorillas und allerhand giftiges Getier traf. Über Marys anglerisches Tun wunderten sich einige der westafrikanischen Stämme hingegen nicht, denn man hielt sie selbst für einen Fisch. Über ihren Dolmetscher erfuhr sie, dass für einige Stämme klipp und klar feststand: „Die Weißen sind keine Menschen, sondern Fische. Sie können eine Weile an Land überleben, aber schließlich besteigen sie wieder ihre Schiffe und verschwinden hinter dem Horizont im Meer.

Notgedrungene Fischexpertin

Dass eine Frau überhaupt auf eine Forschungsreise geschickt wurde, war Ende des 19. Jahrhunderts in der von Männern dominierten britischen Wissenschaft eine kleine Sensation, denn bis zu Marys Abreise nach Afrika war allein die Asienforscherin Isabella Bird (1831-1904) weibliches Mitglied der Königlichen Geographischen Gesellschaft – und auch dies erst seit 1891. Ihrem von Albert Günther (1830-1914), dem aus Essingen am Neckar stammenden Direktor der Zoologischen Abteilung des Londoner Naturhistorisches Museums, erteilter Vermessungsauftrag ist es zu verdanken, dass sie in die Geschichte der Fischwissenschaften eingegangen ist, denn Günther war Ichthyologe und verlangte von ihr das Hauptaugenmerk ihrer zoologischen Forschungen auf Fische zu legen. Neben 15 Gallonen Spiritus (knapp 70 Liter) und etlicher Spezialbehälter zur Aufnahme ihrer Beute (neben Fischen auch Insekten, Reptilien und Gliederfüßer) hatte man sie mit 300 Pfund Reisekostenzuschuss bedacht. Wie bescheiden diese Unterstützung war, wird spätestens dann deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass David Livingstone in den 1860er Jahren für seine Suche nach den Quellen des Nils mit 50.000 Pfund ausgestattet wurde und Henry Morton Stanley 1870 bei seiner Suche nach dem im Herzen Afrikas verschollen geglaubten Livingstone allein von einer Britischen Zeitungsgruppe 12.000 Pfund Vorschuss erhielt. Aber vielleicht war Günthers Knausrigkeit auch dem dem Umstand geschuldet, dass Mary in den Kongo, das damals sogenannte Grab des weißen Mannes, reiste.

Erfolgreiche Anglerin

Als Anglerin war sie sehr emsig und erfolgreich. Fast täglich fischte sie im mit Krokodilen und Schlangen beseelten Gewässern von wackligen Einbäumen aus. Dabei bewies sie das Vorkommen von 18 bis dahin der Wissenschaft für Westafrika unbekannter Fischarten, von denen sieben neuentdeckte waren. Zum Dank für diese Leistung benannte man drei ihrer Entdeckungen nach ihr, wobei es jedoch eher um Fischchen als um für Angler interessante Spezies handelte: Der bis zu 20 Zentimeter große Schwanzfleck-Buschfisch (Ctenopoma kingsleyae), der mit einer Rekordgröße von 13, 5 Zentimetern ebenfalls nicht gerade imposante und zur Gattung der Nilhechte zählende Paramormyrops kingsleyae sowie der bis maximal 16 Zentimeter lange Brycinus kingsleyae. Den beiden letztgenannten ist gemein, dass sie bis heute auf ihre nicht lateinischen Namen warten.

Das die Maße ihrer Beutefische nicht gigantisch ausfallen konnten, war in erster Linie ihrem Angelgerät geschuldet; schließlich fischte sie mit einer einfachen Rute und ohne Rolle. Wie viele Brocken sie im Drill verloren hat, steht leider nicht in in ihrem ansonsten äußerst lesenswerten Buch Reisen ins westliche Afrika. Doch Größe hin oder her – in einer Zeit, in der täglich viele Tier- und Pflanzenarten unwiderruflich aussterben, ist eine fischkundliche Entdeckungsreise à la Mary Kingsley heute wahrhaft historisch und unwiederholbar zu nennen.

 

Der Schwanzfleck-Buschfisch ist mit 20 Zentimetern der Gigant unter Marys Entdeckungen.

 

Noch immer trägt Brycinus kingsleyae nur einen lateinischen Namen.

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