Anglerlatein. Die Fachsprache der Petrijünger
Was es beim Streben nach dem großen Anglerlatinum zu beachten gibt, zeigt unser kurzer Blick in die (Sprach)-Geschichte.
„Mein verstorbener Bruder James Horrocks fing am 1. Juli 1857 beim Drehen [Spinnfischen] mit einem Weißfisch im Grundel-See in Tyrol eine prächtige 15 Kilogramm schwere Forelle. Der Fisch wurde von einem Boot aus in der Dämmerstunde angehakt und bei Fackellicht um Mitternacht gelandet. Den folgenden Tag fing mein Bruder eine 7,5 Kilogramm schwere Forelle auf dieselbe Weise, und sein Tagebuch weist nach, daß er in dieser Zeit 84 Forellen im Gewicht von 85 Kilogramm fing.“ Diese Schilderung im Werk „Die Kunst der Fliegenfischerei auf Forellen und Aschen in Deutschland und Oesterreich“ aus der Feder des Briten John Horrocks (1816–1881), der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den bekanntesten Fliegenfischern auf den europäischen Kontinent zählte, darf wohl mit Fug und Recht als klassisches Beispiel für Anglerlatein zitiert werden. Zwar kann man Horrocks nicht direkt der Lüge bezichtigen, doch erfüllt seine Angelgeschichte drei wichtige Kriterien fürs Anglerlatein: 1. Der Erzähler war nicht direkter Zeuge, kann sich aber – hier sogar durch Blutsverwandtschaft – für die Integrität des Fängers verbürgen. 2. Auch andere Zeugen für dieses außergewöhnliche Fangglück gibt es nicht. Ja sogar der erfolgreiche Petrijünger ist nicht mehr am Leben. Und 3. sind weder Präparate noch Fotos der Beute erhalten. Ein Tagebuch muss genügen. Das Außergewöhnliche an dieser Lektion in Anglerlatein ist allein, dass es in Horrocks Anekdote um den Fang von Forellen ging, denn in unserem Kulturkreis waren es seit dem späten Mittelalter in der Regel Hechte oder Waller, die spektakuläre Kämpfe boten, bevor sie entweder glücklich gelandet oder – für Anglerlateiner viel bedeutsamer – Schnüre sprengten, Ruten zerbrachen oder Haken aufbogen.
Conrad Gesner als Angellateiner
Historisch betrachtet sind prahlerische Storys über gefangene oder fast gefangene Fische allerdings eher die Spitze des anglerlateinischen Eisbergs. Wer in alten Büchern blättert, findet nämlich wesentlich Haarsträubenderes über unsere heimischen Fischarten als ihre Wehrhaftigkeit. Zuweilen sind sie auch angriffslustig. So hat beispielsweise der Schweizer Naturforscher Conrad Gesner (1516–1565) in seiner berühmten Tierbuch über die Gefräßigkeit des Welses geradezu beängstigendes Detailwissen niedergeschrieben: „Er fresset allerley, was er bekommen kann, Gänse,Enten, verschonet auch des Viehes nicht, so man es zur Weyed oder zur Tränke führet, verschonet auch des Menschen nicht, so er ihn bekommen kann.“ Gesner beließ es aber nicht bei diesen naturkundlichen Beschreibungen, sondern konnte auch anhand konkreter Fänge über Raubfische „Wahrheiten“ berichten, wie sie der Baron von Münchhausen nicht trefflicher hätte zu Papier bringen können. So wusste er über einen in 1497 in einem Heilbronner See gefangen Hecht wiederzugeben, dass diese 140 Kilogramm schwere Kreatur rund 250 Jahre alt war, was sich anhand eines am Fisch befestigten goldenen Jahresring belegen ließ, welchen er einst von Kaiser Friedrich II. (1194–1250) erhalten hatte. Leider verschwieg der Chronist die Stelle an der das geschmückte Tier den Ring trug.
Moderne Schwätzer
Es ist aber nicht unbedingt nötig, in längst vergangenen Jahrhunderten nach wundersamen Erzählungen zu suchen. Auch in unseren Tagen muss niemand auf den Genuss herrlicher Angelgeschichten verzichten, schließlich ist die neuere Literatur voll von imposanten Storys über Angelerlebnisse, wie beispielsweise die folgende aus dem Buch „Vom großen Strom zum kleinen Bach“ aus dem Jahre 1967: „Bei dem Preisangeln nun, an dem Hunderte von Anglern teilnahmen, angelten nur wenige mit der Spinnrute. Unter anderem auch der Vorsitzende unseres Vereins, ein prachtvoller Charakter, der fast Sonntag für Sonntag mit der Spinnangel an der Elbe zubrachte und sein Wasser gut kannte. Trotzdem hatte ich mehr Erfolg als er. Ich erbeutete zwölf Hechte und errang damit den sechsten Preis.“ Der Autor dieser bizarren Zeilen war Bruno Wigam. Er zählte in den 60er Jahren zu den selbsternannten Altmeistern des Sportfischens und fing in dieser Eigenschaft zwar nicht immer mehr als andere Petrijünger – immerhin räumte er ein, mit zwölf erbeuteten Hechten nur Sechster geworden zu sein –, doch galten seine ( und die Geschichten anderer Profis) lange als Wahrheiten und finden bis heute, besonders aus den Federn und Mündern sogenannter Teamangler, ihre Leser und Lauscher.
Ob Anglerlatein stets eine gezielt gesprochene Sprache ist oder ob ihr Gebrauch von den Aufregungen des Drills bzw. der Monotonie erlebter Schneidertagen diktiert wird, können weder Linguisten noch Psychiater ergründen. Nur eines ist sicher: Saison für Saison bestätigt sich die Weisheit eines namentlich nicht bekannten US-amerikanischen Anglers, die da lautet:„Nothing makes a fish bigger than almost caught“ (Kein Fisch ist größer als ein fast gefangener).
Diese Postkarte war in den 1930er Jahren in den USA sehr beliebt.