Steinhart und selektiv. Die Erfindung der Boilies
Vor gut 40 Jahren Jahren stellten aus England kommende Boilies das Karpfen-Schleien und Barbenangeln in Europa auf den Kopf. Dass es sich bei dieser Revolution eigentlich um eine Wiederentdeckung alter Köder und Angelmethoden handelte, fiel bislang nur Angelhistorikern auf.
Als die ersten Boilies Anfang der 1980er Jahre in den westdeutschen Geräteläden auftauchten, trauten die meisten Angler ihren Augen nicht und viele Händler mussten sich den Mund fusselig reden, um den Clou der steinharten Proteinkügelchen zu erklären. Gelohnt hat sich die Aufklärungsarbeit aber sehr schnell. Schon Mitte des Jahrzehnts hatten Boilies alle anderen Karpfenköder ausgestochen und (fast) jeder Angler erfüllte sich seinen Traum vom Zwanzigpfünder. Der Boom der Wunderköder kam der Angelgeräte-, Camping- und Konservenindustrie damals wie gerufen, denn nie zuvor in der Geschichte unserer Passion verbrachten Petrijünger mehr Stunden, Tage, Nächte, Wochenenden und ganze Urlaube an ein und demselben Angelplatz, wo sie Karpfenruten, Freilaufrollen, elektronische Bissanzeiger, Zelte, Ansitzstühle, Isomatten, Schlafsäcke, Heizungen, Gastflaschen, Campingkocher und viele hundert Dosen Eierravioli benötigten. Bei genauerer Betrachtung waren solche Daueransitze schon damals nichts wirklich Neues, denn bereits im 17. Jahrhundert wusste der Altmeister Izaak Waltons zu berichten: „Wenn du auf Karpfen angelst, musst du viel Geduld aufbringen. Ich kenne einen sehr guten Karpfenangler, der sechs Stunden pro Tag an einen Fluss fischt und oft drei oder vier Tage hintereinander vergeblich auf einen Biss wartet.“
Dass soviel Geduld schon immer nötig war, bestätigte auch gut 100 Jahre später sein britischer Landsmann Charles Bowlker, in der Erstauflage des 1792 erschienen Buches „The Art of Angling“ (Die Kunst des Angelns). Bei ihm heißt es über das Misstrauen des Karpfens: „Wegen seines Feingefühls verdient er auch den Namen Fuchs des Süßwasser, denn er ist wahrlich ein Großmeister der Unterwasserpolitik.“ Dass solche Großmeister auch Feinschmecker sind, wusste freilich auch Walton und empfahl folgende Köder: „Was den Teig angeht, so gibt dafür fast so viele Arten, wie Medikamente gegen Zahnschmerzen. Es sind aber zweifellos die süßeren, nämlich die aus Zucker oder Honig, die am besten sind.“ Diese, noch heute unumstößliche Weisheit, findet jeder bestätigt, der sich an den Regalen mit Flavours in den Fachgeschäften umsieht. Zu den klassischen, süßen Aromen wie Vanille, Karamell, Erdbeere usw. haben sich längst „Stinker“ à la Hering, Muschel, Krabbe oder Blut gesellt; schließlich gibt es, will man vom Drillerlebnis absehen, für einen eingefleischten Karpfenangler kaum etwas Schöneres, als sein ganz persönliches Boiliegeheimrezept zu kreieren.
Man nehme
Aber auch diese zweitliebste Beschäftigung ist keine ausschließliche Marotte unserer Tage, sondern war bereits vor fast 200 Jahren nötig, wollte man sich beim Angeln auf die wählerischen Rüsselschnuten nicht allein auf sein Glück verlassen oder auf Zufallsfänge hoffen. Ein gewisser St. M. Henning empfahl in seinem 1838 erschienenen Buch „Geheim gehaltene Fischkünste“ folgende Karpfenköder-Mixtur:„Man nehme Kügelchen aus Mehl, Reiherfett, Kampfer, faulem Weidenholz und Honig. Das Holz wird kleingerieben, unter das Mehl gemengt und der Honig mit dem Kampfer und Reiherfett darunter gemischt, alles tüchtig untereinander geknetet, und dann Kügelchen wie Erbsen daraus gemacht; werden sie frisch verbraucht, so brauchen sie mit keinem Löchelchen versehen zu sein, werden sie aber gedörrt, so müssen sie ein solches haben.“ War mit diesem Loch der Boilie bereits erfunden? Eigentlich ja, denn dass Karpfen über Schlundzähne verfügen, mit denen sie härtere Nahrung knacken können und somit gegenüber anderen Cypriniden im Vorteil sind, wussten auch unsere angelnden Vorfahren. Allerdings fehlte ihnen noch das heute untrennbar mit dem Boilieangeln verbundene Haarvorfach – oder etwa doch nicht? Wer sich an das Karpfenangeln der 1970er Jahre erinnern kann, kennt noch die Maisketten am Haarvorfach und den knochenharten Frolic-Ring, die beide etwa zeitgleich vor der Erfindung der Boilies das Karpfenangeln revolutionierten und seinerzeit Knödelchen aus Polentateig und in Zuckerwasser gekochte Kartoffeln als mit der Ködernadel auf den Haken gezogene Geheimköder ablösten.
Und heute?
Knapp ein halbes Jahrhundert nach ihrer Erfindung haben sich die einstigen Wunderkügelchen auch als Top-Köder für Barben und kapitale Schleien bewährt; gleichzeitig spalten sie die Anglerschaft in zwei sich zunehmend von einander entfernende Lager. Während die einen nach wie vor auf die Fängigkeit von Boilies schwören, prangern die anderen die aus ihrer Sicht unwaidmännische Präsentation der Köder an Selbsthakmontagen an und kritisieren weiter, dass nicht etwa der Angler den Fisch fange, sondern dieser heimtückisch übertölpelt würde.
Die ökologische Belastung der Gewässer mit jährlich vielen Millionen eingeworfener Boilies sowie die damit einhergehende „Mästung“ von immer wieder denselben gefangen, zurückgesetzten und dann erneut gefangenen und zu Wasserschweinen herangewachsen Karpfen jenseits der 30 Kilogramm-Marke, wird nicht nur von anderen Zielfischanglern (meist Spinn- und Fliegenfischer), sondern auch von Umweltverbänden zunehmend beanstandet. Ob sich aus den zwei Anglerlagern des Boilizeitalters je wieder eine Gemeinschaft von Petrijünger bilden wird, darf angesichts der allgemeinen Polarisierung unserer modernen Gesellschaft bezweifelt werden.
Zum Beitragsbild: Heute sind Boilies Top-Köder für Karpfen. Dass es einmal Selektivköder geben würde, ahnte man wohl schon im 19. Jahrhundert.